Über Bibliotherapie

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Heute stieß ich in einem Bücherladen auf „Die Romantherapie“* von Ella Berthoud und Susan Elderkin. Da wird es doch mal Zeit, dass ich hier etwas über Bibliotherapie schreibe, dachte ich sofort. Schließlich wirbt der Suhrkamp-Verlag folgendermaßen für dieses Buch: „Bücher auf Rezept: Fallada für die Hoffnungslosen, Tolstoi bei Zahnweh (und, ja, natürlich auch bei Ehebruch) und Schiffbruch mit Tiger in ausweglosen Situationen – die Romantherapie kennt für jede Lebenslage das richtige Buch. Ob Sie an Kaufsucht oder Liebesmangel leiden, ihre Nase hassen, zu wenig Sex haben oder einfach hoffnungslos eitel sind, bei alldem hilft nur eins: der richtige Roman.„*

Nun gut. Neu ist diese Idee nicht. Es gibt ja im deutschsprachigen Raum bereits die „Lyrische Hausapotheke“. Dort weist Kästner auf das heilsame Potenzial der Lyrik hin: „Die Formulierung, die Verallgemeinerung, die Antithese, die Parodie und die übrigen Variationen der Maßstäbe und der Empfindungsgrade, alles das sind bewährte Heilmethoden. (…) Die Katharsis ist älter als ihr Entdecker und nützlicher als ihre Interpreten. Die ‚Lyrische Hausapotheke’ möge ihren Zweck erfüllen!“ *

Aber haben die „Romantherapie“ oder die „Lyrische Hausapotheke“ etwas mit Bibliotherapie zu tun? Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt bedeutet Bibliotherapie das Heilen mit Büchern. Eine aktuelle Definition ist es, Bibliotherapie als Unterstützung von therapeutischen Prozessen in Medizin und Psychotherapie zu sehen. Natürlich kann jeder aber auch selbst lesen und damit „bibliotherapeutisch“ an der eigenen Entwicklung arbeiten. Die Bandbreite reicht von Selbsthilfe- oder Fachliteratur, über das Lesen von Lyrik oder Prosa bis hin zu Texten, die von anderen Patienten (z. B. im Rahmen einer Schreibgruppe) verfasst wurden oder als „Schicksalsberichte“ gedruckt vorliegen.

Der Psychotherapeut Nossrat Peseschkian (1976) hat im Rahmen der von ihm entwickelten Positiven Psychotherapie Klienten häufig fiktive Geschichten angeboten. Er ging von folgenden Mechanismen aus, die eine Entwicklung bei Klienten durch das Lesen der Geschichten anregen:

  • Klienten können sich mit der Geschichte identifizieren
  • Sie erkennen dadurch eigene Probleme oder Bedürfnisse
  • Die Geschichte zeigt modellhafte Lösungswege
  • Die Bildhaftigkeit von Geschichten macht sie gut versteh- und erinnerbar 
  • Geschichten bieten eine milde Art von Konfrotation
  • Geschichten bilden transkulturelle und traditionsübergreifende Wertvorstellungen ab.

Eine psychologische Erklärung, was das Lesen therapeutisch nutzen kann, wäre, dass Bibliotherapie „Lernen am Modell“ ist. Durch Beobachten und Nachahmen können neue Verhaltensweisen erkannt und ausprobiert werden.

Silke Heimes (2012) sieht die Bibliotherapie als Bestandteil der Poesietherapie bzw. des therapeutischen Schreibens. Kreativen Schreibprozessen geht ja häufig das Lesen von Texten voraus, zum Beispiel wenn ein Text als Schreibimpuls gegeben wird. Gleichzeitig kann das Lesen und Besprechen von Texten auch als Teil eines therapeutischen Gesprächs in der Gruppe oder im Zweier-Setting (Therapeutin/Klientin) gesehen werden.

Unklar ist allerdings, nach welchen Kriterien die bibliotherapeutisch genutzte Literatur ausgewählt werden soll. Aus poesietherapeutischer Sicht finden sich Hinweise wie die von Leedy (2009), nämlich ein Gedicht danach auszuwählen, dass es der Stimmung von Patienten entspricht. Empirische Befunde liegen hier – meinen bisherigen Recherchen nach – jedoch nicht vor. Für depressive Patienten käme nach der Ansicht von Leedy (2009) ein eher melancholisches Gedicht in Frage. Zu düster darf es aber auch nicht sein, damit keine Hoffnungslosigkeit aufkommt.*

Es ist klar, dass das sehr vage und wenig überprüfte Angaben sind. In einem therapeutischen bzw. an der Selbsterfahrung orientierten Setting wird es sicherlich von der Gruppe, dem Gruppenleiter oder der Therapeutin abhängen, welche Auswahl an Literatur erfolgt. Insofern ist es auch nicht abwegig, für das eigene Schreiben und Lesen Anregungen aus Büchern wie der o. g.  „Romantherapie“ oder der „Lyrischen Hausapotheke“ zu holen.

Quellen:

*Berthoud E., Elderkin S. & Bünger T. (2013) Die Romantherapie. 253 Bücher für ein besseres Leben. Berlin: Suhrkamp-Verlag.

*Quelle: http://www.suhrkamp.de/buecher/die_romantherapie-traudl_buenger_17589.html

*Kästner E. (2011) Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. München: DTV. Seite  7.

*Peseschkian N. (1976) Der Kaufmann und der Papagei. Orientalische Geschichten als Medien in der Psychotherapie. Mit Fallbeispielen zur Erziehung und Selbsthilfe. Frankfurt: Fischer.

*Heimes S. (2012) Warum Schreiben hilft. Die Wirksamkeitsnachweise zur Poesietherapie. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht.

*Leedy J. (2009) Prinzipien der Poesietherapie. In: Petzold H. & Orth I. (Hrsg.) Poesie und Therapie. Über die Heilkraft der Sprache. Poesietherapie, Bibliotherapie, Literarische Werkstätten. Bielefeld: Edition Sirius. S. 243-247.

Freewriting

Es gibt verschiedene Übersetzungen des Begriffes „Freewriting“: Freies Schreiben, frei schreiben, sich frei schreiben … Meistens bleibt es beim „Freewriting“, zum Beispiel wenn in Schreibgruppen die Aufforderung erfolgt: „Jetzt mal zehn Minuten Freewriting“.

Wer hat es eigentlich erfunden? Wie bei vielen Übungen im kreativen Schreiben ist das schwer zurückzuverfolgen. Auf viele Schreibkniffe kommen Schreibende ja auch von selbst. Wer viel schreibt und experimentierfreudig ist, kommt schon mal auf die Idee einfach loszuschreiben ohne Punkt und Komma. Außerdem wird zum Beispiel in Tagebüchern oft auf freies Schreiben zurückgegriffen.

Der Begriff „Freewriting“ wird bei Peter Elbow (siehe Literaturangabe unten) genauer untersucht. Er hat als Erster ein Buch darüber geschrieben wie Freewriting dabei helfen kann, Schreibblockaden zu überwinden. Zu verorten ist Elbows Ansatz in der humanistischen Psychotherapie nach Carl Rogers. Deren positive Sicht sieht den Menschen als gut und entwicklungsfähig an. Das Streben nach Selbstverwirklichung ist ihm eigen, deswegen muss man ihn nicht erziehen oder manipulieren. Wenn man günstige Bedingungen schafft, dann entwickelt er sich aus eigenem Antrieb. Folgerichtig heißt Peter Elbows Buch auch „Writing Without Teachers“ das heißt „Schreiben ohne Lehrer“. (Meine Übersetzung. Leider wurde das Buch nie ins Deutsche übersetzt). Eine Idee, die mir vorher gar nicht bewusst war: Ein Lehrer braucht Schüler, um Lehrer sein zu können. Aber ein Schüler braucht keinen Lehrer, um zu lernen…

Der Ansatz von Peter Elbow war es, Studierende zu befähigen, auf ihre eigenen Schreibfähigkeiten zu vertrauen. Dazu gehört es, sich nicht schon zu früh mit dem Editieren, Gliedern, Überarbeiten des Textes zu beschäftigen, sondern einfach unzensiert und frei zu schreiben. Wichtig ist, regelmäßig zu schreiben, was leichter fällt, wenn man „irgendetwas“ schreiben darf, das noch keinen Sinn ergeben muss. Diese Methode ist für alle Arten des Schreibens geeignet. Beim wissenschaftlichen Schreiben fand ich den Ansatz von Elbow interessant, auch das Suchen nach Bestätigung für eine Hypothese zu fördern. Er nennt die zwei Prozesse „doubting“ und „believing“ und schlägt vor, auch die Seite, die eine Hypothese für begründet hält, nicht zugunsten der kritischen Sichtweise, die im universitären Bereich für unabdingbar gehalten wird, aufzugeben.

Als therapeutische Sichtweise sind seine Metaphern „growing“ and „cooking“ zu sehen. „Growing“ bedeutet für ihn, dass man dem eigenen Text und den Wörtern ein Potential zurechnen darf, das im Laufe des Schreibprozesses sichtbar wird. „Cooking“ sieht das Schreiben als Prozess, der verschiedene Ebenen miteinander in Einklang bringt: Wörter, Ideen, Eintauchen in die Sprache und Einnehmen einer Perspektive.

Genau wie es viele Schreibende gibt, die Freewriting immer schon praktiziert haben, ohne jemals von Peter Elbows Buch gehört zu haben, versteht jeder unter Freewriting das, was er darunter versteht. So kann sich Freewriting auf ein bestimmtes Thema fokussierten (fokussiertes Freewriting), was allerdings für andere – zu denen ich gehöre – schon wieder viel zu viel Festlegung ist.

Und was unterscheidet „automatisches Schreiben“ vom „Freewriting“?
Automatisches Schreiben war ja angelehnt an psychoanalytische Vorstellungen (manchmal auch an esoterische Vorstellungen) als Zugang zum Unbewussten gedacht. Daher war es erwünscht, das Innere nach Außen kehren zu lassen. Das steht beim „Freewriting“ – so wie ich Elbow verstehe – überhaupt nicht im Vordergrund, sondern das freie Schreiben soll einerseits das Lockerwerden beim Schreiben und zweitens die Ideenentwicklung ermöglichen.

Und was passiert mit den Texten, die durch Freewriting entstehen?
Da kann ich nur aus meiner persönlichen Erfahrung antworten. Außer den freien Texten, die ich beim Tagebuch-Schreiben nutze und die demnach in einer Kladde festgehalten werden, hebe ich Freewriting-Texte eher selten auf. Ich vermeide es einfach, zuviele lose Blätter irgendwo herumliegen zu haben, die ich kein zweites Mal lese. Grundsätzlich leuchten mir Ideen wie das Führen eines Freewriting-Journals oder einer Kiste mit Freewriting-Texten durchaus ein. Ich mache es nur nie.

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* Peter Elbow (1998) Writing Without Teachers. Oxford University Press, Oxford/New York.